26
Victor

Wie auf Kommando durchschnitten die Strahlen mehrerer starker Taschenlampen die Finsternis. In der plötzlichen Helligkeit musste Victor für einige Sekunden die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, bot sich ein verstörendes Bild.

Sechs Personen waren aus dem Wald herausgetreten und hatten sie in einem lockeren Kreis umstellt. Die Lichtkegel ihrer Lampen waren auf die Erde gerichtet, sodass Victor wenig mehr als ihre Silhouetten erkennen konnte. Sie trugen dunkle Kleidung und hatten die Kapuzen ihrer Pullover tief ins Gesicht gezogen. Wer auch immer diese Typen waren, sie hatten sein Leben gerettet. Victor war sicher, dass sich Kims Finger bereits um den Abzug gekrümmt hatte. Wäre die Gruppe nur einen Wimpernschlag später gekommen, läge er in einer Blutlache am Boden. Das konnte kein Zufall gewesen sein. Außerdem schien Kim irgendwie mit ihrem Auftauchen gerechnet zu haben. Sie wirkte nicht im Mindesten überrascht, dafür umso verärgerter.

Für einen Augenblick schien die Zeit wie eingefroren. Reglos verharrten sie in der Nacht.
Dann bewegte sich der Unbekannte ihm gegenüber und beendete damit den Moment des Innehaltens. Gelassen fixierte er Kim. „Nimm die Waffe runter“, befahl er knapp. Unmittelbar darauf spürte Victor, wie sich der Lauf der Pistole von seiner Schläfe zurückzog. Kim taumelte nach hinten und gab ihn frei. Erfüllt von grenzenloser Erleichterung richtete er sich ein wenig auf. Er musste ihr schnellstmöglich die Waffe abnehmen. Gerade als er sich auf sie stürzen wollte, hörte er wieder die Stimme des mutmaßlichen Anführers der Gruppe.

„Stopp“, befahl dieser mit solcher Autorität, dass Victor unwillkürlich gehorchte. „Rühr dich nicht.“

Victor erstarrte zur absoluten Bewegungslosigkeit.

„Du bist in den letzten Monaten völlig außer Kontrolle geraten“, wandte sich der Unbekannte erneut an Kim. „Elric hat Rücksprache gehalten. Wir haben Anweisungen von höchster Stelle, denen wir Folge leisten müssen. Man hält dich für unberechenbar und verantwortungslos. Dein Verhalten fällt auf uns zurück. Du bist zu einem untragbaren Risiko geworden, und dein Leichtsinn gefährdet unseren Auftrag.“

„Ich habe alles im Griff!“, beteuerte Kim. In ihrer Stimme schwang ein eindeutig verzweifelter Unterton mit. „Gib mir noch eine Chance. Lass mir Zeit bis morgen früh. Ich werde alles unauffällig regeln.“

Der fremde Typ schnaubte spöttisch. „Du hast deinen Ex lebendig begraben, es gab zwei Verletzte, und Gwendolin ist total neben der Spur. Zusätzlich hast du diesen Clown mit hineingezogen. Das nennst du unauffällig?“

„Gib mir noch eine Chance“, wiederholte Kim. „Markus, bitte!“

„Setz dir die Waffe an die Schläfe“, unterbrach er sie ungerührt.

Entsetzt verfolgte Victor, wie Kim der Aufforderung widerspruchslos nachkam. Er selbst war nach wie vor zu keiner Handlung fähig, sodass ihm nichts übrig blieb, als die Vorgänge untätig zu beobachten

„Drück ab“, verlangte Markus, während die anderen Typen Kim stumm anstarrten.

Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille. Eine warme Flüssigkeit spritzte auf Victors Gesicht. Er blickte an sich herunter und stellte fest, dass auch sein Oberkörper mit ihrem Blut und Schlimmerem besudelt war. Bittere Galle stieg seine Speiseröhre empor. Sie hatte sich umgebracht. Sie hatte sich erschossen. Freiwillig. Direkt vor seinen Augen.

Mit einem dumpfen Laut schlug Kims Leiche am Boden auf. Victor wischte sich über die Stirn und begann zu würgen. An seinen Fingerspitzen klebte eine blutige Masse, durchsetzt von gräulichem Gewebe und einigen Knochensplittern.

Vor wenigen Sekunden war Kim im Begriff gewesen, ihn zu erschießen. Warum hatte sie stattdessen sich selbst getötet? Weshalb hatte sie dem Befehl gehorcht, den dieser Markus gegeben hatte? Konnte es eine schlüssige Erklärung für den Selbstmord geben? Kim kannte diese Typen, so viel war klar. Doch wieso hatte Gwendolin über ihre Anwesenheit Bescheid gewusst? Sie hatte ihr Näherkommen gefühlt. Welche Verbindung gab es zwischen ihr und Kim?

Auf der Suche nach einem Hinweis musterte er die Gruppe, die ihn weiterhin schweigend umringte. Erst jetzt bemerkte er, dass Markus, der offensichtliche Anführer, als Einziger komplett schwarz gekleidet war. Seine Begleiter trugen ausnahmslos dunkelgrün und erwiderten sein Starren mit gleichgültiger Miene. Immerhin war die durch den Schock ausgelöste Lähmung abgeklungen.

Besorgt wandte er sich Gwendolin zu. Sie hatte sich auf die Knie erhoben und betrachtete die Leiche mit leerem Blick. Trotz der Tragödie, die sie gerade miterlebt hatte, war ihr Gesicht völlig ausdruckslos.

„Gwendolin?“, sprach er sie behutsam an.

Keine Reaktion.

Irritiert schaute er in die Runde. Die Gruppe schien auf etwas zu warten.

„Gib dir keine Mühe“, empfahl Markus kühl. „Du wirst sie nicht wiedersehen. Verschwinde. Wir kümmern uns um alles.“

„Gwendolin! Spricht mit mir!“, versuchte er, zu ihr durchzudringen. Vergeblich.

„Komm mit uns“, sagte Markus zu Gwendolin und streckte die Finger nach ihr aus.

Gwendolin nickte und ergriff, ohne zu zögern, die dargebotene Hand. Keine Spur des Entsetzens, das sie zuvor verspürt hatte. Obwohl die Angsttränen auf ihren Wangen noch nicht getrocknet waren, obwohl auch sie von Kims Blut befleckt war, obwohl sie sich in der Mitte von Unbekannten befand, die sie unweigerlich mitnehmen würden, wirkte sie vollkommen entspannt.

Fassungslos sah Victor zu, wie sich Gwendolin von dem Fremden auf die Füße ziehen ließ.

Als sie an ihm vorbeiging, streckte er spontan die Hand nach ihr aus. „Gwendolin? Hörst du mich?“, fragte er eindringlich.

„Lass sie gehen“, beharrte Markus. „Rette lieber den Typ im Sarg.“

Bevor Victor seine Finger um ihren Arm schließen konnte, kamen ihm heftige Zweifel. Es war offensichtlich, dass Gwendolin die Leute begleiten wollte. Innerhalb von Sekunden wurde seine Unsicherheit zu Gewissheit. Er musste ihre Entscheidung akzeptieren. Er musste sie gehen lassen.