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Gwendolin

Schweigend folgte sie Victor durch die Nacht und versuchte dabei, sich nicht von der Panik überwältigen zu lassen. Bereits nach wenigen Metern hatte sie völlig die Orientierung verloren. Verzweifelt bemühte sie sich, die Angst auszublenden, die förmlich auf einen schwachen Moment zu warten schien. Beharrlich streckte die Beklemmung ihre kalten Finger nach ihr aus. Gwendolin biss die Zähne aufeinander und atmete bewusst dagegen an. Erfolglos. Sie begann zu frieren und spürte gleichzeitig, wie ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Der Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Sie waren nicht alleine in der Nacht.

Victor bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, und blieb stehen.

„Was ist los?“, fragte er und spähte prüfend in die Schwärze.

„Panikattacke“, presste Gwendolin hervor. Da sie sich ohnehin innerhalb der nächsten Minuten bis auf die Knochen blamieren würde, konnte sie genauso gut direkt ehrlich sein. „Kommt häufiger vor.“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Was immer da draußen war, es kam näher. Hilflos registrierte sie die Kälte, die langsam von ihrem Körper Besitz ergriff. Ihr Bewusstsein verengte sich. Ein eisiger Knoten in ihrem Innern. Pure, unverfälschte Angst. Wie es aussah, würde sie heute einen neuen Rekord erreichen. Schon jetzt stellte die Intensität alles bisher Dagewesene in den Schatten. Trotzdem nahm sie weiter zu.

Gwendolin kniff die Lider zusammen und stieß zitternd den Atem aus. Sie senkte den Kopf und verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Vergeblich. Die grausame Welle breitete sich in ihr aus, erstreckte sich in alle Winkel ihres Geistes, erfüllte ihren Körper mit klirrender Taubheit und ihren Verstand mit verstörendem Lärm. Unaufhaltsam und unbarmherzig. Gwendolins Knie gaben nach, sie taumelte.

Plötzlich veränderte sich etwas in ihrer Wahrnehmung. Ein Anflug von Geborgenheit, ein unerwarteter Hoffnungsschimmer rissen sie aus ihrer Lähmung. Victor stand direkt vor ihr, hatte seine Arme um sie gelegt und hielt sie fest umschlungen. Es fühlte sich fast so an, als sei er bereit, sie mit seinem Körper gegen alle Gefahren abzuschirmen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sich Gwendolin auf seine Berührung und spürte, wie sie von Wärme durchflutet wurde. Die Angst zog sich zwar nicht zurück, doch Victors Gegenwart lenkte sie ab und verdrängte die Kälte. Zuerst fast unmerklich, dann zunehmend schneller. Die unbekannten Präsenzen, die sie in der Finsternis weiterhin erahnte, rückten in den Hintergrund. Langsam entspannte sie sich und klammerte sich an den winzigen Funken Sicherheit, den ihr Victor gab. Seine Hände, die beruhigend ihren Rücken streichelten. Sein Gesicht, das so nah war, dass sein Atem ihre Wange streifte. Unwillkürlich kamen ihr Alex‘ gemurmelte Wort in den Sinn. Ich hatte befürchtet, dass du in Gwendolins Nähe zum Draufgänger mutierst. Wie hatte er das gemeint? Wollte er damit andeuten, dass sich Victor für sie interessierte? Oder konnte er sich nur die Gelegenheit zu einem dummen Spruch nicht entgehen lassen?

Ohne länger darüber nachzudenken, richtete sie sich auf. Sie legte ihre Hände in Victors Nacken und schmiegte das Gesicht in seine Halsbeuge. Er erstarrte. Selbst seine Hand auf ihrem Rücken war plötzlich bewegungslos. Gwendolin biss sich verkrampft auf die Lippe. Mieses Timing. Sie hatte gerade ihre größte Schwäche gestanden und wäre fast vor seinen Augen zusammengebrochen. Er hatte sie lediglich getröstet. Wie konnte sie sein Verständnis derartig ausnutzen? Wenn er sie jetzt abwies, war sie selbst schuld.

Victor machte jedoch keine Anstalten, sie wegzuschieben. Stattdessen umfasste er sie fester, beugte sich zu ihr hinab und berührte mit den Lippen zart ihre Stirn. Für einige Sekunden standen sie in enger Umarmung. In der Realität fühlte sich seine Nähe noch schöner an als in ihrer Vorstellung.

„Können wir weiter?“, erkundigte er sich viel zu früh und strich ihr behutsam mit den Fingerspitzen über die Schläfe.

Gwendolin zuckte zusammen. Scheiße. Joshua schwebte in Lebensgefahr, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich an Victor zu kuscheln.

„Sicher“, bestätigte sie beschämt, ohne ihn dabei anzusehen.

Victor trat einen Schritt zurück, ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Gemeinsam setzten sie ihren Weg durch die Dunkelheit fort.

„Wie häufig kommt das vor?“, fragte Victor nach einigen Minuten Stille. In seiner Stimme konnte sie keine Spur von Unbehagen wahrnehmen.

„Das ist unterschiedlich“, erwiderte sie, während sie den Waldboden fixierte, der im spärlichen Licht der Laterne nur schemenhaft zu erkennen war. „Manchmal habe ich wochenlang Ruhe. Dann sind es wieder mehrere Tage am Stück, in denen ich diese Beklommenheit spüre. Völlig unberechenbar. Ich hasse diese verdammten Paranoiaschübe. Ich hasse es, mich zu fürchten.“

„Und dann meldest du dich für eine Nacht im Schattenraum an.“ Victor lachte ungläubig.

„Nicht meine beste Entscheidung. Ich hatte schon den ganzen Abend über ein schlechtes Gefühl“, erklärte sie leise. „Aber ich will diesem Mist keine Macht über mich geben. Ich will mich davon nicht einschränken lassen. Wenn ich mich wegen einer vagen Ahnung daheim verkrieche, hat die Angst über mich triumphiert. Bisher ist nie etwas passiert, was diese Anfälle rechtfertigen würde. Keine Ahnung, weshalb es ausgerechnet heute dermaßen heftig ist. Ich schätze, ich muss den Tatsachen ins Auge sehen. Ich bin …“ Sie verstummte und schluckte. „Verrückt“, beendete sie heiser ihren Satz.

Victor legte ihr eine Hand auf den Oberarm. „Ich fahre nie mit dem Aufzug, weil ich Angst vor einem Absturz habe“, offenbarte er unvermittelt. „Das ist auch nicht mehr oder weniger rational.“

Gwendolin blieb ruckartig stehen und wandte ihm schweigend das Gesicht zu.

„Du solltest dich nicht dafür verurteilen“, sagte er sanft. „Jeder hat mit Problemen zu kämpfen. Deine sind nicht abgedrehter oder verrückter als andere.“

Gwendolin suchte in Victors dunklen Augen vergeblich nach einem Zeichen von Hohn oder Spott. Aber er schien es tatsächlich ernst zu meinen.

„Danke“, flüsterte sie schlicht, woraufhin ihr Victor zulächelte. Vielleicht bestand doch eine Chance für sie, wenn sie dieser endlos scheinenden Nacht entkommen waren.

Bereits nach wenigen Minuten verblasste das warme Gefühl, mit dem sie Victors Worte erfüllt hatte. Das Grauen ging erneut zum Angriff über. Wieder grub sich die Angst mit spitzen Klauen in ihr Inneres. Sie waren nicht allein. Jemand, etwas, war ihr auf den Fersen. Und was auch immer sie verfolgte: Es hatte geduldig gewartet und kam jetzt unaufhaltsam näher.