„Was war in dieser verfluchten Flasche?“, fragte David aggressiv und starrte auf seinen Freund, der bewegungslos auf der Türschwelle lag.
„Nichts, was diese Reaktion auslösen könnte“, verteidigte sich Alex hilflos. „Malzbier mit Sirup. Völlig harmlos.“
„Offensichtlich nicht!“, fuhr ihn David an. „Er wurde vergiftet!“
„Fühlte er sich schon zuvor krank? Hat sich dieser Zusammenbruch irgendwie angekündigt?“, erkundigte sich Victor alarmiert. „War ihm schlecht?“
„Er war seit einer knappen Stunde extrem ruhig“, erwiderte Gwendolin. „Aber ich –“
„Warum hat er das Zeug nicht ausgekotzt? Er muss doch bemerkt haben, dass etwas nicht stimmt!“, unterbrach Alex aufgebracht. „Jetzt ist es zu spät.“
„Er meinte, er habe sich bestimmt bei Joshua angesteckt“, erklärte Gwendolin schuldbewusst. „Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass es eine Verbindung zum Inhalt der Flasche geben könnte.“
„Nutzt sowieso nichts mehr“, sagte Alex resigniert. „Er hätte sich direkt den Finger in den Hals stecken müssen.“
„Vielleicht stirbt er!“, schluchzte Julia hysterisch.
„Wir müssen einen Krankenwagen rufen“, verlangte David und zog mit der unverletzten Hand sein Handy aus der Hosentasche. „Zum Glück habe ich das Teil eingesteckt.“
Victor schüttelte den Kopf. „Es dauert zu lange, bis wir den Weg zu uns beschrieben haben. Wer weiß, wie viel Zeit er braucht, um uns mitten im Wald zu finden. Alex‘ Auto steht in einer Senke ungefähr fünfhundert Meter entfernt. Zum Glück nicht in unmittelbarer Nähe der Orga-Unterkunft. Wir fahren gemeinsam ins Krankenhaus. Ihr kommt ebenfalls mit“, wandte er sich an die anderen.
Alex nickte entschieden. „Lasst uns außerdem die Polizei kontaktieren. Sollen die sich um die Irre mit der Waffe kümmern.“
„Nichts wie raus aus dem Wald!“, stimmte auch David zu und warf einen besorgten Blick auf den mittlerweile bluttriefenden Verband um seinen Unterarm.
Ohne zu zögern, kniete sich Alex neben Timo, griff von hinten unter dessen Achseln hindurch und verschränkte die Hände vor seiner Brust.
„Kommt ihr?“, fragte er, während er Timo vorsichtig die beiden Stufen herunter schleppte.
Julia zögerte. „Meine Sachen liegen in der Hütte“, sagte sie und musterte unentschlossen die Tür. Sofort legte ihr Victor eine Hand auf die Schulter, während sich Alex abrupt zu ihr drehte.
„Stopp“, zischte er scharf. „Eure verrückte Freundin beobachtet den Schattenraum über die Kamera. Sie darf nicht bemerken, dass wir abhauen. Wer weiß, auf welche Ideen sie kommt. Man braucht lediglich zehn Minuten von unserer Unterkunft hierher. Ich für meinen Teil will nicht erneut auf sie treffen.“
Victor hatte Gwendolin stumm beobachtet. Sie wirkte verängstigt und niedergeschlagen. Ihr Gesicht war so blass, dass es sich im flackernden Licht der Petroleumlampe kaum von ihren hellen Haaren abhob, und ihre Brust hob sich im schnellen Tempo ihrer Atemzüge. Am liebsten würde er sie in seine Arme schließen und nicht mehr loslassen.
„Ich kann nicht weg“, murmelte sie leise.
„Mann, Gwendolin“, versetzte Alex. „Das ist der falsche Moment für Heldentaten. Hier rennt eine Psychopathin mit einer Pistole herum, die offensichtlich keine Hemmungen hat, diese zu benutzen.“
„Wenn ihre Drohungen wahr sind, hat sie Joshua!“, hielt ihm Gwendolin entgegen. „Möglicherweise lassen wir ihn zum Sterben zurück. Wer weiß, wie lange die Polizei für die Anfahrt braucht. Dieses Risiko können wir nicht eingehen.“
„Verdammt“, fluchte Alex unbeherrscht. „Daran hatte ich nicht mehr gedacht. Ob sie ihn in den Sarg gesperrt hat?“
„In den Sarg?“, wiederholte Gwendolin mit brechender Stimme. Victor strich ihr beruhigend über den Oberarm. Trotz der katastrophalen Lage, in der sie sich befanden, genoss er die Berührung und fühlte sich augenblicklich schuldig dabei. Er wollte ihr Trost spenden und nicht ihre Sorge ausnutzen.
„Das große Finale des Schattenraums“, erklärte er, während er bedauernd die Hand zurückzog. „Wenn ihr das Lager des Agrimals gefunden habt, müsst ihr euch in seinen Sarg legen, um das Ritual der Verbannung abzuschließen.“
„Ihr seid echt nicht ganz dicht“, knurrte Julia. „Wie kommt man auf solch kranke Ideen?“
„Sie hat Josh lebendig begraben“, stieß Gwendolin entsetzt hervor, ohne Julias Beschwerde zu beachten. „Deshalb gab sie uns Hinweise auf einen Wettlauf gegen die Zeit. Sie konnte nicht ahnen, dass ihr flüchten würdet.“
„Das bezweifle ich“, warf Alex ein. „Sie kennt das komplette Gelände und die Positionen aller Aufgaben. Mit Sicherheit ist ihr nicht entgangen, dass unser Lagerraum ein unverschlossenes Fenster hat. Sie weiß garantiert, dass wir weg sind. Vielleicht hat sie das sogar geplant. Es ist naheliegend, dass unser nächstes Ziel die Hütte sein würde.“
Gwendolin ignorierte Alex‘ Einwand vollständig. „Wir müssen Josh befreien“, wandte sie sich an Victor und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihr eindringlicher Blick hatte zur Folge, dass er für einige Sekunden die Gefahr vergaß, in der sie höchstwahrscheinlich schwebten. Mühsam riss er sich von Gwendolins blaugrauen Augen los.
„Sie hat recht“, unterstützte er sie. „Wir müssen zum Sarg. Es wäre unverantwortlich, ihn nicht zu überprüfen und damit Joshuas Leben zu riskieren.“
„Das geht nicht“, protestierte Alex mit einem Nicken zu Timo und David. „Schau dir die beiden an! Vor allem Timo muss schleunigst in ein Krankenhaus! Wer weiß, was diese Verrückte dem Flascheninhalt beigemischt hat. Keine Ahnung, wie sie ihr gestörtes Spiel fortsetzen will. Ich fürchte, sie wird in Kürze hier auftauchen.“
„Fahrt“, forderte Victor. „Ich hole Joshua aus dem Sarg.“
„Ich bleibe bei dir“, eröffnete Gwendolin.
„Das ist zu gefährlich. Ich kümmere mich alleine darum“, widersprach Victor, woraufhin Alex leise „Ich hatte befürchtet, dass du in Gwendolins Nähe zum Draufgänger mutierst.“ murmelte.
„Keine Diskussion. Er ist mein bester Freund“, erinnerte sie ihn. Dabei wirkte sie dermaßen entschlossen, dass Victor kapitulierend die Schultern hob. Er konnte nur hoffen, dass sie Alex‘ Bemerkung nicht gehört hatte.