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Gwendolin

„Ob sie noch lange brauchen?“ Gwendolin prüfte zum wiederholten Mal ihre Armbanduhr. Seit ihrem Hilferuf waren ungefähr fünfzehn Minuten vergangen, und Julia und David hatten sich vor über einer halben Stunde auf den Weg zum See gemacht. Allmählich wurde Gwendolin unruhig. Das tatenlose Herumsitzen zehrte an ihren Nerven.

„Die werden schon kommen“, versicherte Timo matt, der verdächtig ruhig am Tisch saß und auf seine Hände starrte.

Gwendolin musterte ihn besorgt. Als sie all seinen Einwänden zum Trotz Kontakt zum Orga-Team aufgenommen hatte, war er extrem aufgebracht gewesen. Er hatte geschimpft, gezetert und war kurz davor gewesen, ihr Papier und Stift aus den Händen zu reißen. Anschließend war er wie ein eingesperrtes Tier in der Hütte umhergetigert. Im Verlauf der letzten zehn Minuten war er jedoch zunehmend ruhiger und einsilbiger geworden.

Gwendolin legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ist alles in Ordnung?“

Timo murmelte etwas Unverständliches.

Gwendolin beugte sich vor, um in sein Gesicht zu sehen. Beunruhigt registrierte sie, dass ihr Freund leichenblass war.

„Was ist los mit dir?“, fragte sie irritiert. Sie hatte fest damit gerechnet, dass er sich mit Händen und Füßen dagegen wehren würde, in der Hütte auf die Orgas zu warten. Immerhin hätten sie in der Zwischenzeit ein weiteres Rätsel lösen können.

„Ich fühle mich irgendwie seltsam“, gab Timo zu. „Vermutlich die Hektik. Vielleicht hätten wir die Aufträge etwas langsamer angehen sollen. Hoffentlich hat mich Joshua nicht angesteckt.“

Gwendolin nahm eine der Wasserflaschen, schraubte den Verschluss ab und reichte sie Timo. „Trink mal einen Schluck. Vielleicht hilft das.“

Timo kam ihrer Aufforderung wortlos nach und sank unmittelbar darauf wieder auf die Tischplatte.

Gwendolin blickte erneut auf ihr Handgelenk. Wo blieben die nur? Weder eine Spur des Orga-Teams noch von Julia und David. Zu allem Überfluss war die unterschwellige Beklommenheit, die sie seit ihrer Ankunft gespürt hatte, wieder stärker geworden. Gwendolin fühlte sich wie im Zentrum eines Kreises aus unsichtbaren Beobachtern, der unaufhörlich enger wurde. Entschlossen verdrängte sie den Gedanken an die drohende Panikattacke. Gerade heute Nacht durfte sie sich keine Schwäche erlauben. Möglicherweise befand sich Victor bereits in der Nähe. Dennoch war ihr bewusst, dass die Angst bloß auf die passende Gelegenheit wartete, um hervorzubrechen.

Gwendolin zuckte zusammen, als sie eilige Schritte vor der Hütte hörte. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen. Julia und David traten über die Schwelle. Ein Blick auf die tränenverschmierten Wangen ihrer Freundin genügte, um Gwendolins erleichtertes Aufatmen zu einem erschrockenen Zischen zu wandeln. Julia stützte David und schob ihn vorsichtig ins Innere. Er drückte den Arm an die Brust, auf seinem hellgrauen T-Shirt hatte sich ein großer Blutfleck ausgebreitet.

„Was ist passiert?“, wollte Gwendolin wissen, während sie Julia dabei half, ihren Freund auf einem Stuhl zu platzieren.

„Glasscherben“, brachte David hervor. „Ich habe mir den kompletten Unterarm aufgeschnitten.“

Gwendolin stieß heftig die Luft aus. „Sind die bescheuert?“

„Davids Einschätzung war richtig. Die Wegbeschreibung führte uns tatsächlich zu einem kleinen See“, erklärte Julia. „Zum Glück war David klug genug, zuerst den Uferbereich abzutasten. Er hat sich auf den Bauch gelegt und voll in die Scherben gegriffen. Wenn er direkt ins Wasser gesprungen wäre, hätte er sich lebensgefährliche Verletzungen einhandeln können. Vermutlich ist der ganze Grund mit Glassplittern bedeckt. Die Orgas sind total irre! Das hatte ich von Anfang an gesagt!“

„Wir müssen die Wunde zumindest notdürftig versorgen“, stellte Gwendolin mit einem Blick auf Davids blutdurchtränktes T-Shirt fest. Wenige Sekunden später hatte sie den Verbandskasten aus dem Regal gezogen und begann damit, ihn systematisch zu durchsuchen.

„Wir sollten ihnen trotzdem Bescheid geben“, keuchte David mit zusammengebissenen Zähnen. „Am besten brechen wir die ganze Sache ab und sehen zu, dass wir aus dem Wald rauskommen.“

„Vielleicht sind die Orgas schon auf dem Weg zu uns, weil sie wissen, was geschehen ist“, überlegte Julia. „Gut möglich, dass sie im Gelände ebenfalls Kameras angebracht haben.“

„Ich habe vor über einer halben Stunde um Unterstützung gebeten“, eröffnete Gwendolin düster, ohne die Augen vom Erste-Hilfe-Kasten abzuwenden. „Bisher kein Lebenszeichen. Keine Lautsprecherdurchsage. Nichts.“

„Weshalb hast du sie kontaktiert?“, fragte Julia erstaunt. „Hast du geahnt, dass etwas passiert?“

„Joshua“, erwiderte Gwendolin knapp und holte eine sterile Wundauflage aus der Schachtel. „Ich wollte sichergehen, dass es sich bei seiner Entführung samt Drohbrief wirklich um eine inszenierte Aktion handelt.“

Julia zog die Brauen hoch, entgegnete jedoch nichts.

„Es hört nicht auf zu bluten“, ächzte David und schloss kurz die Lider. Seine Stimme klang rau. „Diese Schnitte sind verdammt tief.“

„Gefunden!“, rief Gwendolin im gleichen Moment und zog einen Mullverband hervor. Sofort begann sie, Davids Unterarm provisorisch zu verbinden. Diese gesamte Schattenraum-Aktion war ein Albtraum. Jetzt konnten sie nur darauf hoffen, dass Hilfe unterwegs war.

„Leute?“, meldete sich Timo schwach vom Tisch. „Irgendetwas stimmt nicht. Mir geht’s ziemlich schlecht.“