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Gwendolin

Langsam ließ Timo den Papierbogen auf die Tischplatte sinken.

„Ein Drohbrief!“, sagte er begeistert. „Die lassen sich echt etwas einfallen.“

David nickte. „Bestimmt haben sie Josh eingeweiht, damit er mitspielt.“

„Ob er trotzdem bezahlen muss?“, überlegte Timo. „Immerhin entgeht ihm ein Großteil des Spaßes.“

„Wer weiß, wo er gerade ist“, nörgelte Julia missmutig. „Wahrscheinlich sitzt er mit den Orgas in deren Quartier, trinkt Bier und amüsiert sich darüber, wie wir mit ekligem Getier und blöden Aufträgen gequält werden. Wieso haben sie ausgerechnet ihn ausgewählt? Ich wäre dankbar gewesen, wenn ich –“

„Ja“, unterbrach Timo. „Wissen wir. Du hattest keine Lust, du bist genervt, alles ist doof, du würdest am liebsten nach Hause. Und jetzt hör auf, uns alle mit deiner miesen Laune runterzuziehen. Ich finde es super hier!“

„Super?“ Julia verschränkte die Arme und blitzte ihn aufgebracht an. „Du fandest also die Krabbelzeug-Aufgabe super?“

Gwendolin verfolgte den Schlagabtausch nur mit einem Ohr. In Gedanken war sie bei Joshua und dem Drohbrief. Natürlich lag auf der Hand, dass es sich dabei um eine inszenierte Aktion des Orga-Teams handelte. Dennoch spürte sie nagende Zweifel, die sich immer wieder an die Oberfläche kämpften. Joshua war der Einzige ihrer Freunde, der über ihre Paranoiaschübe Bescheid wusste. Sie hatte ihm anvertraut, dass sie dieses Problem vorerst geheim halten wollte, ebenso wie die Tatsache, dass sie von ihren Eltern nach dem letzten Panikanfall zu einem Psychologen geschleppt worden war. Glücklicherweise sah dieser keinen direkten Handlungsbedarf, was wiederum ihre Eltern beruhigt hatte. Sie selbst sollte bis zum nächsten Besuch in einem halben Jahr lediglich Buch führen über Häufigkeit und Dauer der Attacken. Dennoch erfüllte sie die Aussicht, ihre Freunde könnten bemerken, wie seltsam sie war, mit Unbehagen. Und gerade heute Nacht war es ihr besonders wichtig, normal zu erscheinen. Immerhin wurde sie von Victor beobachtet. Victor, für den sie sich seit Wochen interessierte. Victor, der nicht ahnte, wie psychotisch sie werden konnte. Victor, auf den sie um jeden Preis einen guten Eindruck machen wollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Joshua sie in dieser Situation alleingelassen hätte, zumal er sie noch zum Besuch des Schattenraums ermuntert hatte.

„Ich weiß nicht …“, fing Gwendolin zögerlich an und richtete sich ein wenig auf. „Ich denke nicht, dass Joshua mit dem Orga-Team gemeinsame Sache machen würde.“

„Gwendolin“, stöhnte Julia. „Das ist lächerlich. Glaubst du tatsächlich, jemand hätte Josh entführt, um uns dann einen Drohbrief zu schicken? Ausgerechnet an dem Wochenende, an dem wir eine Nacht im Schattenraum verbringen? Ausgerechnet heute?“

„Ich weiß ja selbst, wie absurd es klingt“, gab Gwendolin frustriert zu. „Aber Joshua hätte –“ Sie verstummte unvermittelt, als ihr klar wurde, dass ihre Argumentation gezwungenermaßen mit der Enthüllung ihres Geheimnisses enden würde.

„Was hätte er?“, wiederholte Timo verständnislos. „Es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder liegt Josh mit einem Magen-Darm-Infekt zu Hause. Die Orgas haben das mitbekommen und nutzen es, um uns diese Entführungsstory vorzusetzen. Oder er war von Anfang an eingeweiht, beobachtet uns gerade durch die Kamera und lacht sich ins Fäustchen. Ich wette, dass Variante zwei zutrifft.“

Gwendolin nickte, war jedoch weiterhin nicht überzeugt. Trotzdem konnte sie das Thema nicht vertiefen, ohne unangenehme Details zu verraten.

„Dieser Brief soll für die nötige Gruselstimmung sorgen und uns antreiben“, pflichtete auch David bei. „Lasst uns mitspielen und die nächste Aufgabe erledigen. Josh können wir morgen früh die Meinung sagen.“

Timo sprang vom Stuhl, als habe er nur auf diese Aufforderung gewartet. Mit der Petroleumlampe näherte er sich erneut dem Pergament auf dem Tisch.

„Was sollen wir jetzt in Angriff nehmen?“, fragte er unternehmungslustig.

„Vielleicht etwas draußen?“, zog David in Erwägung und musterte die einzelnen Punkte. „Bergt die Gebeine jenseits des Spiegels. Klingt spannend.“

„Wir könnten die nächsten Aufträge getrennt erfüllen“, schlug Timo erneut vor. „Wir wären deutlich schneller! Mehr als ein paar harmlose Schockeffekte wird’s eh nicht geben.“

„Als es eben darum ging, wer in die Kiste greift, erschien dir das Ungeziefer gar nicht so harmlos“, stichelte Gwendolin mit einem halben Grinsen.

Julia warf einen angeekelten Blick auf die Kiste. „Dass diese Idioten die Truhe unbedingt im Raum aufstellen mussten … Seit du diese dicke schwarze Spinne befreit hast, kann ich es kaum erwarten, nach draußen zu gehen.“

„Ein See“, murmelte David zusammenhanglos, woraufhin ihn alle verständnislos anblickten.

„Ich denke, die Gebeine jenseits des Spiegels befinden sich in einem See“, präzisierte er.

Timo nickte aufgeregt. „Das könnte sein! Dann machen wir das als Nächstes? Immerhin wissen wir ungefähr, worauf wir uns einlassen.“ Er zögerte. „Wobei die siebte Aufgabe auch infrage käme. Sieht so aus, als könnten wir in unmittelbarer Nähe zu Ehren der Toten trinken. Schwierig.“

Er wirkte unschlüssig. Gwendolin konnte ihm den Zwiespalt förmlich vom Gesicht ablesen. Einerseits brannte er darauf, dem Geheimnis des Sees auf die Spur kommen, andererseits wollte er keine Zeit vergeuden. Gwendolin brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um ihre Entscheidung zu treffen. Sollte der Brief wider Erwarten doch keine Aktion des Orga-Teams sein, würde Joshua in Lebensgefahr schweben. Sie musste schnellstmöglich herausfinden, was hier gespielt wurde.

„Lass uns bleiben und die Nummer sieben erledigen“, sagte sie zu Timo, der ihren Vorschlag mit einem erfreuten Lächeln zu Kenntnis nahm. „Julia und David suchen den Spiegel.“

David stand, ohne zu zögern, auf. „Kommst du?“, wandte er sich an Julia.

Diese stieß einen tiefen Seufzer auf, schob aber ebenfalls ihren Stuhl zurück. „Immerhin kann ich vor dieser verseuchten Kiste flüchten“, murrte sie. „Echt, Leute, für diese saublöde Idee mit dem Schattenraum seid ihr mir was schuldig! Dafür ist mindestens ein Kinobesuch mit Popcorn und Coke fällig.“

„Folgt dem Trampelpfad nach Norden. Wählt an der Gabelung bei der alten Eiche den linken Weg“, prägte sich David die Beschreibung ein.

Wenig später waren beide in der Dunkelheit verschwunden.