Mit einem irritierten Stirnrunzeln verfolgte Victor die Videoübertragung des Schattenraums.
„Meintest du nicht, sie wären zu fünft?“, fragte er an Alex gewandt, der es sich mit einer Flasche Bier auf einem großen Sessel gemütlich gemacht hatte.
„Doch“, antwortete dieser. „Sind sie nicht?“
„Die sind zu viert. Definitiv“, versicherte Victor, der weiterhin angestrengt auf den Bildschirm starrte.
„Okay“, sagte Alex gleichgültig und trank einen Schluck.
„Zwei Jungs, zwei Mädchen“, informierte Victor und ignorierte das offensichtliche Desinteresse seines Freundes.
„Drei Jungs waren angemeldet“, überlegte Alex. „Kann der dritte außerhalb des Kamerasichtfeldes sein?“
„Blödsinn.“ Victor schüttelte entschieden den Kopf. „Dann müsste er seit einer Viertelstunde vor der Hütte stehen. In der Zwischenzeit hat der Dunkelhaarige sogar das Gelände gesichtet. Das sind nur vier.“
„Keine Ahnung“, erwiderte Alex schulterzuckend. „Vielleicht ist ihm etwas dazwischengekommen. Ich habe die Anmeldung schriftlich. Solange sie für fünf Personen bezahlen, ist mir alles recht.“
„Zu viert werden sie länger brauchen, um die Aufgaben zu erledigen“, gab Victor zu bedenken.
„Kein Problem“, wehrte Alex ab. „Das rechnen wir am Ende ein. Sie machen eh keinen sonderlich motivierten Eindruck.“
Victor beobachtete weiterhin den kleinen Monitor. Die Gruppe hatte endlich den Papierbogen mit Anweisungen und kryptischen Aufgaben an der Tür entdeckt. Erfahrungsgemäß würde nun heftig über das weitere Vorgehen diskutiert werden. Meistens wandten sich die Schattenraum-Besucher zuerst den scheinbar einfachen Herausforderungen innerhalb der Hütte zu, bevor sie in das umliegende Gelände aufbrachen. Eine ungünstige Reihenfolge, da es mit zunehmender Dunkelheit mühsamer wurde, die vorgegebenen Orte zu finden. Selbst der letzte Schimmer Tageslicht könnte einige Schwierigkeiten verhindern.
Victor sah auf sein Handgelenk und unterdrückte ein Stöhnen. Er saß keine Stunde vor dem Bildschirm und wurde schon ungeduldig. Immerhin konnte er die gesamte Nacht mit der Betrachtung Gwendolins verbringen. Ihr Anblick entschädigte mehr als genug für den fehlenden Schlaf. Perfekt sitzende Jeans, ein enges Shirt, das sich an ihren Körper schmiegte. Helle Augen, die durch die kurzen Haare noch größer wirkten, und volle Lippen.
Gerade hatte sie sich vor dem großen, blonden Typ aufgebaut. Sie stemmte einen Arm in die Hüfte und entriss ihm mit dem anderen energisch die halb aufgegessene Kekspackung. Victor lächelte.
Sie war ihm in der Schule bereits mehrfach aufgefallen, aber bisher hatte sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch ergeben. Er war nicht der Typ, dem es leicht fiel, spontan auf Menschen zuzugehen, und für eine lockere Unterhaltung auf dem Pausenhof fehlte ihm die passende Einleitung. So gesehen war es ein willkommener Zufall, dass sich ausgerechnet Gwendolin für den Schattenraum angemeldet hatte. Spätestens am kommenden Morgen würde er die Chance erhalten, mit ihr zu reden. Zuvor musste die Gruppe dummerweise den Agrimal erfolgreich bannen, ansonsten würde sie den Zorn der Bestie spüren. In diesem Fall wäre ein Treffen auf dem Pausenhof doch die bessere Wahl, selbst wenn sie sich lediglich schweigend anstarren würden. Zumindest wäre es weniger verstörend. Victor seufzte leise. Vielleicht könnte er Alex bitten, das Endszenario zu verändern? Beispielsweise könnten sie auf Kunstblut und Eier verzichten.
„Träumst du?“ Alex stieß ihm den Ellbogen in die Seite und warf einen Blick auf den Monitor. „Die brauchen ziemlich lange. Die letzte Gruppe hatte sich schneller entschieden, womit sie beginnen wollte.“
„Stimmt“, gab Victor zu. „Vielleicht hängt das mit dem fehlenden Typ zusammen. Möglich, dass sie dadurch verunsichert sind.“
„Die Dunkelhaarige sieht überhaupt nicht glücklich aus“, analysierte Alex. „Ist das Gwendolin?“
Victor schüttelte den Kopf. „Gwendolin ist die mit den kurzen, blonden Haaren.“
„Dann besteht Hoffnung für dich. Es scheint, als fände sie die Aufgaben spannend“, stellte Alex anerkennend fest. „Ich muss zugeben, dass sie heiß ist. Komisch, dass ich sie in der Schule nicht bemerkt habe. Deine Gwendolin könnte mir echt gefallen. Besonders, da sie offensichtlich auf spektakulären Nervenkitzel steht. Und ich stehe auf ihre spektakulären –“
Victor richtete sich verärgert auf.
Alex grinste entwaffnend und hob die Hände. „Ist klar. Sie gehört dir“, sagte er lachend und verfolgte weiterhin die Übertragung. „Die Dunkelhaarige mit der Trauermiene muss Julia sein. Der Blonde heißt Timo. Von ihm kam die Anmeldung. Also ist der mit den schwarzen Haaren entweder Joshua oder David.“
Victor nickte, ohne den Blick von Gwendolin zu nehmen. „Ich frage mich, wo ihre Nummer fünf abgeblieben ist.“