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Joshua

Joshua hatte gerade seinen Schlafsack an der Reisetasche festgezurrt, als sein Handy vibrierte und einen melodischen Ton von sich gab. Er unterdrückte ein Seufzen. Vermutlich wieder Kim. Seit dem unerfreulichen Gespräch in der Schule hatte er nichts mehr von ihr gehört, was völlig untypisch war. Sobald er die Zeit dazu fand, würde er die Rufnummer wechseln. Ihre verzweifelten Versuche, ihn zurückzugewinnen, waren nicht nur nervig und kräftezehrend, sondern gingen auf Dauer wirklich an die Substanz. Andererseits – wie einsam musste sie sein, dass sie derart um seine Freundschaft kämpfte?

Joshua schüttelte den Kopf. Kein Mitleid. Heute Morgen hatte sie den Bogen endgültig überspannt. Missmutig blickte er auf das Display. Eine Nachricht von einer unbekannten Nummer.

Hier ist Alex vom Orga-Team des Schattenraums. Wir wollen für deine Gruppe eine Entführung inszenieren. Hast du Interesse, uns zu unterstützen?

Joshua lächelte amüsiert. Das Orga-Team unterstützen, indem er dabei half, eine Entführung vorzutäuschen? Das könnte lustig werden.

Allerdings konnte er Gwendolin nicht im Stich lassen. Die anderen wussten nichts von ihren Angstzuständen. Er wollte in ihrer Nähe sein, selbst wenn es unwahrscheinlich war, dass es ausgerechnet heute Nacht zu einem weiteren Anfall kam. Er konnte sich vorstellen, wie unangenehm ihr der Gedanke war, ausgerechnet vor Victor Schwäche zu zeigen.

Mit leichtem Bedauern schrieb er zurück:

Sorry, ich würde lieber bei der Gruppe bleiben. Fragt bei Timo nach, der ist für solche Aktionen immer zu haben.

Die Antwort kam wenige Sekunden später.

Bist du sicher? Du weißt bereits Bescheid, das würde das Konzept zerstören. Wir brauchen dich lediglich als Aufhänger der Story, danach kannst du zur Gruppe stoßen.

Joshua kaute unentschlossen auf seiner Unterlippe herum. Selbstverständlich wollte er die Planung des Schattenraums nicht sabotieren. Aber Gwendolin konnte er ebenso wenig alleine lassen.

Wie lange wird diese Entführungsaktion dauern?

Erneut kam die Antwort sofort.

Etwa eine Stunde. Bist du dabei?

Okay. Eine Stunde war akzeptabel.

Einverstanden. Was soll ich tun?

Mit gemischten Gefühlen wartete Joshua auf die nächste Nachricht. Die Anweisungen ließen nicht lange auf sich warten.

Überlege dir einen guten Grund, weshalb du angeblich nicht mitmachen kannst. Sag deinen Freunden ab. Komm zwei Stunden früher zur Hütte.

Ohne weiter zu zögern, tippte Joshua seine Antwort und schickte sie ab.

In Ordnung.


Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, um sich zu vergewissern, dass es keine spontane Änderung gab, öffnete Joshua seinen Mailaccount. Timo hatte netterweise die Mail mit benötigter Ausrüstung, Kontaktdaten und – in diesem Fall besonders wichtig – Anfahrtsskizze weitergeleitet. Anschließend prüfte er die Route und überschlug die benötigte Zeit im Kopf. Obwohl die Hütte im Grunde nicht weit entfernt war, musste er ungefähr anderthalb Stunden für die Anreise einplanen, da sein Ziel nicht direkt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen war. Der Schattenraum befand sich inmitten eines großen Waldgebiets, in dem Joshua früher von seinen Eltern zu ausgedehnten Spaziergängen genötigt worden war. Aus Erfahrung wusste er, dass man stundenlang wandern konnte, ohne auf eine Menschenseele zu treffen. Der Wald war dort voll von dichtem Gestrüpp und massigen Nadelbäumen, deren Zweige bis tief auf den Boden hingen und ein Vorankommen jenseits der Wege äußerst mühevoll machten. Mehr als einmal hatte sich Joshua vorgestellt, dass die Bäume mit langen Fingern nach ihm griffen, um ihn in die grüne Dunkelheit zu ziehen. Er musste zugeben, dass das Orga-Team die Kulisse gut gewählt hatte.

Mit einem Klick loggte er sich aus und starrte ratlos auf sein Handy. War es nicht grausam, Gwendolin vorzugaukeln, sie müsse den Schattenraum ohne seine Unterstützung überstehen? Andererseits war es gut möglich, dass sie seine Schwindelei erkennen würde. Beim Gedanken an Gwendolins ausgeprägte Intuition musste Joshua lächeln. Auch wenn ihn seine beste Freundin vermutlich auf Anhieb durchschauen würde, könnte er sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen. Sie würde den anderen mit Sicherheit nichts verraten.


Wenige Minuten später ließ er enttäuscht das Handy sinken. Keine Chance, sein Anruf wurde nicht einmal durchgestellt. Es wurde wirklich Zeit, dass ihr Anbieter den neuen Vertrag endlich auf die Reihe bekam. Auch auf dem Festnetz hatte er kein Glück, sodass er sich widerstrebend dazu entschloss, stattdessen David anzurufen. Wenn alles nach Plan lief, müsste Gwendolin nur eine Stunde ohne ihn aushalten. Das war vertretbar. Außerdem wollte er dem Orga-Team nicht das Konzept versauen.

Bereits nach dem zweiten Klingeln hob David ab.

„Hi, hier ist Josh“, krächzte Joshua und bemühte sich, leidend und kraftlos zu klingen.

„Josh?“, wiederholte sein Freund besorgt. „Alles in Ordnung?“

„Leider nicht“, brachte Joshua heiser hervor. „Ich fürchte, ich habe das Mittagessen nicht vertragen. Mir ist erbärmlich schlecht. Habe schon mehrmals gekotzt und bin froh, dass mein Zimmer neben dem Bad liegt.“

„Oh nein“, sagte David mitleidig. „Was ist mit unserer Nacht in der Hütte?“

„Daraus wird nichts“, erwiderte Joshua. „Ich liege total flach. Mir geht’s beschissen. Zieht ohne mich los.“

„So ein Mist!“ David seufzte.

„Ja“, bestätigte Joshua schwach. „Tut mir echt leid.“

„Dafür kannst du nichts“, wehrte David ab. „Leg dich ins Bett. Wir erzählen dir morgen alles. Ich gebe den anderen Bescheid.“

„Viel Spaß“, verabschiedete sich Joshua und legte auf. Eilig packte er die letzten Ausrüstungsteile zusammen und versuchte dabei, das unterschwellige flaue Gefühl in seiner Magengrube zu ignorieren.