„Wer ist diese Verrückte?“, flüsterte Alex fast unhörbar und rüttelte vorsichtig an der Tür des Abstellraums, in den sie das dunkelhaarige Mädchen eingeschlossen hatte.
„Ich habe keine Ahnung“, gab Victor ebenso leise zurück. „Könnte sein, dass ich sie schon mal gesehen habe. Geht sie vielleicht auf unsere Schule?“
„Gehörte sie nicht zu dieser extrem gründlichen Gruppe, die vor ein paar Wochen hier war? Die alle zwölf Aufgaben erledigt und dadurch die Morgendämmerung samt Beschwörung verpasst hatte?“, grübelte Alex. „Das würde zumindest erklären, weshalb sie die genaue Lage unserer Zentrale kennt. Vermutlich haben sie das komplette Gelände gesichtet.“
Victor zuckte mit den Schultern und bemühte sich, einen klaren Kopf zu behalten. Zuerst bat Gwendolin um Hilfe, dann stürmte diese Psychopathin mit einer Pistole bewaffnet in ihre Unterkunft und sperrte sie im Lager ein. Fast schien es ihm, als seien sie selbst Opfer ihres Schattenraum-Albtraums geworden.
„Wie im Horrorfilm“, sprach Alex seine Gedanken laut aus.
„Wir müssen hier raus“, beschloss Victor. „Wir sollten uns schnellstmöglich auf den Weg zur Hütte machen. Wer weiß, was da los ist. Vielleicht ist sie nicht allein.“
Für einen Moment war es still, während beide fieberhaft überlegten.
„Kann es sein, dass alles inszeniert ist?“, fragte Alex plötzlich. „Von einer verärgerten Gruppe, die sich für die Angst rächen will, die wir ihr eingejagt haben? Einige Aufgaben und insbesondere der Agrimal-Showdown kamen nicht bei allen gut an.“
Victor runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht …“
„Sie könnten mit den anderen unter einer Decke stecken. Deine Gwendolin hat diesen Zettel geschrieben. Unsere Aufmerksamkeit konzentrierte sich völlig auf sie. Dadurch konnte die andere Tussi unbemerkt unsere Unterkunft betreten. Bestimmt handelt es sich nur um eine Spielzeugpistole“, mutmaßte er erleichtert. Woher soll sie an eine richtige Knarre kommen? Ich wette, wir könnten problemlos unseren Platz zurückerobern.“
„Und wenn nicht?“, hielt Victor entgegen. „Wenn im Schattenraum wirklich etwas schiefläuft? Wenn die Waffe da draußen echt ist? Wenn wir ernsthaft bedroht werden? Wir dürfen kein Risiko eingehen.“
„Was willst du tun?“, erkundigte sich Alex. „Einfach hier sitzen und warten, was weiterhin passiert?“
„Nein“, widersprach Victor. „Wir flüchten und nehmen Kontakt zu Gwendolin und den anderen auf.“
„Wir flüchten„, wiederholte Alex spöttisch. „Vic, wir sind nicht die Beute in diesem Spiel. Wir sind die Jäger!“
„Sei nicht so stur“, drängte Victor. „Wir müssen zumindest in Erwägung ziehen, dass es diese Verrückte da draußen ernst meint. Lass uns durchs Fenster steigen.“
„Durchs Fenster?“, vergewisserte sich Alex skeptisch. „Meinst du nicht, sie wird damit rechnen?“
„Egal. Darum kümmern wir uns später“, sagte Victor ungeduldig. „Los jetzt!“
Alex wirkte noch immer unentschlossen. Bevor Victor einen erneuten Überzeugungsversuch starten konnte, unterbrach ein trockenes Knistern die Diskussion. Die Verrückte hatte das Mikrofon angeschaltet.
„Die nutzt unser Equipment“, wisperte Alex verärgert. „Wehe, sie macht etwas kaputt! Dann –“
„Klappe!“, zischte Victor und versetzte Alex einen Stoß mit dem Ellbogen.
„Hallo, Leute!“, erklang die Stimme des Mädchens aus dem Nachbarraum. „Erkennt ihr, wer spricht?“ Sie legte eine kunstvolle Pause ein, obwohl sie die Antwort der Zuhörer im Schattenraum ohnehin nicht hören konnte. „Genau. Ich bin’s. Kim.“
„Immerhin hat das Grauen jetzt einen Namen“, murmelte Alex. Victor ignorierte seinen Freund und lauschte Kims Worten.
„Ich sehe, dass ihr meinen Brief bereits gefunden habt. Das ist gut. Ihr wisst also, worum es geht. Ich habe euren kostbaren Joshua entführt. Er befindet sich in akuter Gefahr, und seine Zeit wird allmählich knapp. Ihr solltet euch an die Lösung der weiteren Aufgaben machen. Davids Verband entnehme ich, dass ihr meine Überraschung jenseits des Spiegels schon entdeckt habt. Oder hat er sich am Besitz des Erhängten verletzt? Oder beim Erklimmen der bleichen Schräge? Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich bin gespannt, was ihr zu meinen Ergänzungen sagt. War es Timo, der zu Ehren der Toten getrunken hat? Mal sehen, wie lange er durchhält. Sieht nicht gut aus, der Arme. Ihr solltet schnell machen. Nicht nur ihm läuft die Zeit davon. Ihr wart ziemlich langsam, und ich habe keine Ahnung, wie lange Joshuas Luft ausreicht.“ Sie kicherte gespielt verlegen. „Jetzt macht schon. Und erwartet keine Hilfe vom Orga-Team. Diese beiden Schwachköpfe habe ich außer Gefecht gesetzt.“
Mit zunehmender Besorgnis hatten Victor und Alex Kims Ansprache verfolgt. Entsetzt starrten sie einander im Halbdunkel des Lagerraums an, in den nur durch die Türritzen ein spärlicher Lichtschimmer fiel.
„Entweder handelt es sich um ein überzeugend inszeniertes Spektakel“, überlegte Alex.
„Oder Joshua liegt tatsächlich lebendig begraben in unserem Sarg“, beendete Victor seinen Satz und wandte sich zu dem kleinen Fenster um. „Das klingt alles gar nicht gut. Eine Überraschung jenseits des Spiegels? Sie ist gespannt, wie lange Timo durchhält, nachdem er die Flüssigkeit aus der Flasche getrunken hat? Es wirkt, als habe sie unsere Herausforderungen zu Todesfallen umfunktioniert.“
Alex nickte stumm.
„Wir müssen den Sarg überprüfen, um auszuschließen, dass sich Joshua darin befindet“, fuhr Victor fort. „Auf dem Weg dorthin können wir an der Hütte haltmachen, um die Gruppe zu warnen, damit sie keine weiteren Aufgaben erledigt. Wobei das nach Kims Eröffnung klar sein müsste.“
„Echt scheiße, dass wir weder unsere Taschenlampen noch unsere Handys haben“, fluchte Alex leise. „Die würden uns die Sache deutlich erleichtern.“
„Lass uns abhauen“, forderte Victor. „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“